Klimaschutz vor Gericht: Erstmals Klimaklage vor Menschengerichtshof Von Regina Wank, dpa

29.03.2023 04:45

Was haben Schweizer Seniorinnen, portugiesische Jugendliche und ein
französischer Bürgermeister gemeinsam? Sie alle klagen vor dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Nun müssen die Richter
in Straßburg erstmals entscheiden: Ist Klimaschutz ein Menschenrecht?

Straßburg (dpa) - Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
(EGMR) wird an diesem Mittwoch erstmals über mögliches staatliches
Versagen gegenüber dem Klimawandel verhandelt. Hintergrund sind
Klagen aus der Schweiz, aus Frankreich und Portugal. Je nach Ausgang
der Verfahren könnte es für Regierungen richtig ungemütlich werden.


Worum es geht

In diesem Sommer werden drei Klagen vor dem EGMR verhandelt, die sich
mit der Verantwortung für den Klimawandel beschäftigen. Den Anfang
machen die Klimaseniorinnen, ein Zusammenschluss von Schweizer
Rentnerinnen, initiiert und unterstützt von Greenpeace. «Das
Spezielle an uns ist, dass wir die einzige Gruppe alter Aktivistinnen
sind», sagt die 73-Jährige Rosmarie Wydler-Wälti der dpa. Die
Klimaseniorinnen argumentieren, dass sie durch ihr Alter besonders
durch den Klimawandel gefährdet sind, beispielsweise wegen extremer
Hitzewellen. Am gleichen Tag wird auch der Fall eines französischen
Bürgermeisters verhandelt, der für die Einhaltung der Pariser
Klimaziele klagt. Später im Sommer gehen außerdem portugiesische
Jugendliche gegen 33 Mitgliedstaaten des Europarats vor.

Was die Verhandlung der Klimaseniorinnen besonders macht

«Der EGMR hat sich zwar zuvor schon mit Umweltemissionen - Lärm oder

Luftverschmutzung - auseinandergesetzt, aber noch nie mit den
CO2-Emissionen eines Landes», sagt die Völkerrechtlerin Birgit Peters
von der Universität Trier. Deswegen wird das Verfahren zur Klage der
Klimaseniorinnen mit besonderer Spannung erwartet. «Es bestehen
Anzeichen dafür, dass das Gericht die Beschwerde der Klimaseniorinnen
zum Anlass nehmen wird, um einheitliche Grundsätze für alle drei
ähnlich gelagerten Fälle auszuarbeiten», sagt der Umweltrechtler
Johannes Reich von der Universität Zürich.

Wie die Chancen stehen

Gerade weil umweltrechtliche Fragen bisher keine große Rolle vor dem
EGMR gespielt haben, ist eine Vorhersage sehr schwierig. «Das
Spektrum der möglichen Entscheidungen, die das Gericht treffen kann,
ist daher weit gespannt: Es reicht von der Unzulässigkeit der Klage
bis hin zu detaillierten gerichtlichen Vorgaben für die
schweizerische Klimapolitik», sagt Reich.

Was das mit Deutschland zu tun hat

Sollten die Klimaseniorinnen gewinnen, würde das zunächst nur die
Schweiz binden. Aber: Der EGMR mit Sitz im französischen Straßburg
gehört zum Europarat und ist für die Einhaltung der
Menschenrechtskonvention zuständig. Zum Europarat gehören die
EU-Staaten, aber auch andere große Länder wie die Türkei oder
Großbritannien. Spräche sich dieses supranationale Gericht nun etwa
für strengere Vorgaben beim Klimaschutz aus, hätte das in jedem Fall
große Signalwirkung. «Wenn generelle Aussagen getroffen würden, dass

Menschenrechte im Klimawandel Pflichten begründen, müssen auch andere
Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention diese Art
der Auslegung beachten», sagt Peters. Aber: Es sei schwierig, daraus
für Deutschland konkrete Politikempfehlungen abzuleiten.
Diesbezüglich stehe den Staaten ein weiter Ermessensspielraum zu.

Welche internationalen Entwicklungen es gibt

Klagen für Klimaschutz liegen im Trend. Laut dem Grantham Institute
der London School of Economics wurden bislang weltweit über 2000
Klimaklagen erhoben, ein Viertel davon zwischen 2020 und 2022. Bald
könnte es mehrere spannende Entwicklungen geben: Der Inselstaat
Vanuatu im Südpazifik will für mehr Klimaschutz den Internationalen
Strafgerichtshof einschalten. Auch in den USA, in Brasilien und in
Schweden wurden Klimaklagen erhoben. Und in Deutschland? Da sind
zuletzt mehrere Klagen gegen Autohersteller gescheitert.
Klimaschützer schauen nun mit Spannung auf das Oberlandesgericht
Hamm. Dort läuft die Beweisaufnahme im Fall eines peruanischen Bauern
gegen den Energiehersteller RWE.

Wie es weiter geht

Mit einem Urteil ist frühestens im Herbst, wahrscheinlicher wohl aber
erst im kommenden Jahr zu rechnen. Mit dem Vorentscheid, die
Verhandlung und Anhörung vor der Großen Kammer des Gerichtshofs
durchzuführen, wird nach Ansicht der Klimaseniorinnen immerhin die
grundlegende Bedeutung der Klagen unterstrichen. «Wir hoffen auf ein
Leiturteil, dass Klimaschutz eine menschenrechtliche Frage ist und
nicht nur auf eine bloße Absichtserklärung», sagt die Klimaseniorin
Stefanie Brander. Klimapolitik dürfe kein rechtsfreier Raum sein, wo
jeder «vor sich hin wursteln darf», fügt Wydler-Wälti hinzu.